Es war wieder soweit – während Mitte Januar halb Europa in Schnee und Eis versinkt, die Menschen bei arktischen Temperaturen bibbern und Dachkonstruktionen angesichts unerwarteter Schneemassen reihenweise an ihre Belastungsgrenzen stoßen, sieht die Welt, gerade einmal acht Flugstunden von Zentraleuropa entfernt, ganz anders aus. Mit 30 Grad im Schatten lockt der indische Winter.
Wenn gleich die Umstellung schon enorm ist. Die Flugzeugtür schwingt auf, der Reisende ist froh endlich aus der Enge des Flugzeuges zu entkommen und trifft mit voller Wucht auf das warme Klima des indischen Subkontinentes.


Obwohl mitten in der Nacht stehen uns Europäern bereits nach wenigen Minuten der Schweiß auf der Stirn. Einheimische freilich verstehen dies rein gar nicht. Es ist Winter in Indien, es ist kalt. Wie können da diese hellheutigen Touris mit kurzen Hemden und T-Shirts durch die Gegend laufen.
Dennoch, es ist wundervoll wieder in dieses Land, diese Kultur einzutauchen. So fremd, so fern und doch so faszinierend. Mit Menschen, die freundlich und offen auf das ihnen Fremde reagieren. Wir sind herzlich willkommen in diesem Land und stets von einer Menschentraube umringt. “Wo kommst Du her?”, “wie heißt Du?” sind Fragen, die wir in der nächsten Woche wohl hunderte Male gestellt bekommen werden.


Anlass für unsere Reise ist Makar Sankrati, oder auch Uttarayan genannt, das in Indien am 14. Januar eines jeden Jahres gefeiert wird. Dann hat die ganze Stadt frei, im gesamten Staat Gujarat ist Feiertag, und die Leute, egal ob groß und klein, stehen auf den Dächern ihrer Häuser, fliegen mit indischen Kampfdrachen und versuchen einem Nachbarn den Drachen abzuschneiden. Doch bis es soweit ist, bleiben noch ein paar Tage Zeit und wir können die Gegend in und um Ahmedabad erkunden. Zu empfehlen ist in jedem Fall einer der unzähligen Drachenmärkte der Stadt.

Drachenmarkt ist hierbei noch untertrieben, werden die Kampfdrachen und Manjaleinen doch auf offener Strasse hergestellt und angeboten. Längs der Strasse haben sich die Leinenproduzenten aufgestellt. Leinen werden zwischen zwei Stäben gespannt, anschließend mit einem Gemisch aus Glassplittern, Leim und Farbe getränkt. Danach wird die Schnur auf großen Trommeln getrocknet und abschließend auf Paprollen gespult. Die Verwendung als Drachenschnur steht somit nichts mehr im Wege. Zwischen Strasse und Häusern haben sich fliegende Händler niedergelassen, die ihre Drachen anbieten. Wer Glück hat, konnte sich mit dem Eigentümer eines angrenzenden Ladens über die Pacht einigen, besagten Ladeneigentümer für zwei Wochen in Ferien senden und dann das Ladenlokal als Drachenladen umgestalten.

Apropos lautstark – irgendwie geht auf diesen Märkten immer alles mit beträchtlicher Lautstärke und körperlichen Einsatz zu. Es scheint zu einem guten Geschäftsgebaren dazuzugehören sowohl den Händler zur rechten und linken, als auch das nicht enden wollende Hupkonzert der Rikschas auf der Strasse übertönen zu wollen. Und je näher das eigentliche Fest rückt, je lauter werden die Händler, je unübersichtlicher die Menschenmenge.
Gut, wenn man dann dem hektischen Treiben für eine Weile entfliehen kann, einfach einmal eine Auszeit nimmt und die Seele baumeln lässt. Wie beispielsweise im Ashram von Gandhi, der in Ahmedabad gelebt hat und von hier aus seinen grossen Marsch angetreten hat.


Am letzten Abend vor dem Fest, die Geschäfte haben mittlerweile bis 2 Uhr in der Nacht geöffnet um den Ansturm gerecht zu werden, herrscht ohrenbetäubender Lärm in den Gassen von Ahmedabad. Ein Geschiebe und Gedränge, gekaufte Drachen können nur noch über dem Kopf transportiert werden, da sie ansonsten in der Menschenmasse zerdrückt werden. Allenthalben Händler, die Ihre Drachen an den Mann bringen wollen, stetig unterbrochen durch das Tuten der Kampfhörner, die ansonsten dafür verwendet werden den erfolgreichen Abschuss von Nachbars Drachen kundzutun. Diese ganze Menschenmenge in engen Gassen, auf engsten Raum. Gerüche von gebrannten Mandeln vermischen sich mit den Zweitaktabgasen der Rikschas, die ganze Szene wirkt so fremd und doch so nah. Man muss es am eigenem Leib erlebt haben, diese Markttage kurz vor Uttarayan in einer großen indischen Stadt.

Drachenfliegen in Indien bedeutet Kampfdrachen und Manjaleinen. Westliche oder asiatische Drachentypen haben bis heute keinen Einfluss auf die einheimische Szene gefunden. Lediglich am Tag vor Uttarayan findet ein großes internationales Drachenfest statt, auf dem die ausländischen Drachenflieger ihre Drachen zeigen und auch fliegen können. Wenn es denn mit dem Wind klappt. Denn dieser ist zu dieser Jahreszeit in Indien Mangelware. Waren wir letztes Jahr noch in einem Stadium, wurde der Festplatz in diesem Jahr kurzerhand an den durch Ahmedabad fließenden Fluss verlegt. An sich eine gute Idee, doch mehr Wind gab es auch nicht. Schade, denn ansonsten war von Seiten der Organisation in diesem Jahr an alles gedacht gewesen. Für die einzelnen Delegationen wurde eine Zeltstadt aufgebaut in der die Kreationen nach Ländern geordnet dem Publikum präsentiert werden konnten. Eingerahmt wurde das Drachenfest von einer großen Eröffnungsveranstaltungen mit Ministerpräsidenten des Staates Gujarat sowie Staatspräsidenten und einer Schlussveranstaltung, von der die angereisten Drachenflieger mangels indischer Sprachkenntnisse leider nur wenig mitbekommen haben.


Dann, der 14 Januar. Uttarayan, der eigentliche Grund unserer Reise. Indische Kultur in ihrer ureigensten Form. Feste haben dabei einen unglaublich hohen Stellenwert in der indischen Kultur, wobei diese von Stadt zu Stadt, von Land zu Land unterschiedlich sind. Nach der Sage Ramayana ging es dem indischen Volk richtig gut. Es hatte alles zum Leben notwendige, das Tagwerk war leicht vollbracht. Dennoch langweilte es sich und fiel am Ende in tiefe Melancholie. Zeit zu handeln, dachte sich Lord Ram und holte sich bei Gott Vashishta Rat. “Feste Feiern” war die einfache Lösung des Problems. Feste, bei denen die Dankbarkeit der Menschen für die Natur, die Götter und die Planeten gezeigt werden sollten. Seitdem wird wohl jede wichtige Begebenheit in Indien gefeiert. Geburtstage, Heirat, aber auch die erste Schwangerschaft und Jubiläen werden gefeiert. Und steht gerade einmal kein Geburtstag auf dem Kalender, feiert man eben Lord Rama, Lord Krishna oder Hanuman (der Affengott), Ganesha (der Elefantengott) oder Naag (der Schlangengott). Makar Sankranti / Uttarayan ist eines dieser Festivals, wobei an diesem Tag keinen Gott gehuldigt wird, sondern zwei Naturphänomene stattfinden. Das eine Phänomen ist Makar Sankrati, der Zeitpunkt, indem die Sonne das Sternbild des Steinbockes, Makar Rashi genannt, betritt. Das andere Phänomen ist Uttarayan, der Beginn der nördlichen Reise von Mutter Sonne. Uttar ist dabei die indische Bezeichnung für Norden, Ayan für Reise. Kurz gesagt, Uttarayan bedeutet für Inder das Ende des Winters. Die Überlieferung sagt, dass jener 14. Januar ein ganz besonderer Tag ist, treffen doch Sonnenstrahlen in einem ganz speziellen Winkel auf die Erde. So ist es gut für die Gesundheit an diesem Tag möglichst lange in freier Natur zu sein, was der weise Vashishta dadurch erreichte, dass an diesem Tag das Volk zum Spielen aufgefordert wurde. Eines jener bis heute erhaltene Spiele ist, Sie werden es bereits erraten haben, das Drachensteigen.

 

Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang stehen die Menschen auf den Dächern ihrer Häuser, tief im Spiel mit Ihrem Drachen, der Natur und dem Kampf gegen andere Teilnehmer versunken. Es ist ein unglaubliches Gefühl an diesem Tag auf einem Dach mitten in der Altstadt von Ahmedabad zu stehen. Egal wohin man auch blickt, Menschen, die auf den Dächern stehen und in der Luft tausende von kleinen Kampfdrachen, die pfeilschnell mal hier hin mal dort hin fliegen. Sich ein um das andere Mal um die eigene Achse drehen, bis sie denn ihren Gegner gefunden haben, sich angreifend auf diesen stürzend, dessen Leine umwickelnd und mit einem letzten Ruck dessen Leine abschneidend. “Kay Po Che” (der Drachen ist abgeschnitten) ertönt es vom siegreichen Hausdach, einhergehend mit einem nicht enden wollenden Trötkonzert der indischen Kampfhörner. Dazu wird Til Chikki gereicht, ein indischer Sesamkuchen, der köstlich süß den Kämpfer stärken soll. Welch kulturelle Bedeutung das Drachenfliegen in Indien einnimmt, zeigt auch der Name für Drachen. Patang ist ein sanskrit Wort und bezeichnet sowohl Schmetterling, als auch den älteren Bruder Lord Krishnas. Ob nun mit geistigem Beistand oder mit Hilfe des leckeren Til Chikki – diese Stunden auf den Dächern von Ahmedabad sind etwas ganz besonders. Man muss es einfach selbst einmal erlebt haben, wenn tausende von Drachen durch den Himmel flitzen, wenn kein Teil der Stadt von Drachen ausgenommen wird und egal wo das Auge des Betrachters auch hinwandert – der Blick immer auf sich freuende Menschen fällt, die tief in das Spiel um ihren Drachen versunken sind. Ehrlich gesagt, wir Europäer haben nicht die geringste Chance im Kampf gegen diese indischen Kampfdrachenexperten, unsere Drachen sind schon abgeschnitten, bevor wir den Angriff überhaupt bemerken. Dennoch ist es ein wunderbares Gefühl einzutauchen in diese fremde Kultur, teilzunehmen und teilzuhaben an dieser Gemeinschaft, ein winziges Teil dessen sein zu dürfen, was indische Kultur seit Jahrhunderten ausmacht. Allen Unzulänglichkeiten, allen Schwierigkeiten zum Trotz, alleine der Menschen wegen ist eine Reise nach Indien empfehlenswert und so ist nicht nur in unserem Kalender der 14. Januar 2006 fest reserviert, wenn es wieder heißt “Kay Po Che” hoch über den Dächern von Ahmedabad.

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